Memory­stations

Memorystations, Therese Schuleit


Stellen wir uns einen Ort vor, an dem jede individuelle Geschichte, wie nebensächlich sie uns selbst oder anderen auch erscheinen mag, gleich bedeutsam ist. An dem niemand festlegt, welche Erlebnisse für die Chronik einer Gesellschaft entbehrlich sind und welche nicht, welche allgemeingültigen Charakter haben und welche privaten, was für die Zukunft relevant ist und was getrost vergessen werden kann. Niemand legt Kriterien an, um Wissen zu bewerten, zu sortieren und zu kategorisieren. Ein solcher Ort wäre das Spiegelbild einer Welt, in der es kein Unten und kein Oben gibt, keine verdrängten Narrative und keine hegemoniale Geschichtsschreibung. Wie müsste solch ein utopischer Ort beschaffen sein? Zunächst müsste er für alle zugän lich sein – wie ein Marktplatz, den man nach Belieben aufsuchen kann. Auf diesem Platz sind alle gleich, alle sind gleichermaßen Akteur*innen wie Zuschauer*innen.

Ein solcher Ort will memorystations.online sein: ein erzählendes Archiv, das aus dem besteht, was die Nutzer*innen selbst dort einlagern, und das seine Struktur anhand jener Kriterien verändert, welche die Nutzer*innen ihren Erinnerungsobjekten zuweisen.

Memorystations, Therese Schuleit

Wie funktioniert das?

Ein einfaches Beispiel: Wer ein beliebiges Dokument, etwa eine Fotografie, in das Archiv hochlädt, kann ihm Zeiten, Eigenschaften, Verben oder Dinge zuordnen, die es charak- terisieren – Subjekt, Prädikat und Objekt, die virtuell einen Satz bilden. Die Schlagworte erfinden dabei allein die Nutzer*innen, zum Beispiel: „1916“, „2018“, „früher“, „vor der Wirtschaftskrise“, „11.11.“, „Sommer“, „70er Jahre“ als mögliche Zeiten; „dreckig“, „mutig“, „solidarisch“, „geheimnisvoll“, „schwarz“, „leise“, „laut“ als mögliche Eigenschaften; „arbeiten“, „verlieren“, „essen“, „stehen“, „pro- testieren“, „heiraten“, „bauen“ als mögliche Verben; „Fabrik“, „Pause“, „Protest“, „Kalk“, „Hut“, „Straße“, „Arbeit“ als mögliche Dinge. Der Algorithmus erkennt dadurch Verwandt- schaften, stellt Beziehungen zwischen ein- zelnen Objekten her und legt sie auf eine Ebene, durch die Nutzer*innen horizontal oder vertikal – in die Tiefe – navigieren können. Ein solches experimentelles Archiv ist keine Datenbank, sondern ein Erlebnisort, an dem man wie Alice im Wunderland in eine andere,fantastische Welt eintaucht. Es funktioniert nicht systematisch oder hierarchisch, sondern als Labyrinth, in dessen Verzweigungen man sich verlieren kann. Je mehr Material dieses Archiv enthält, desto assoziativer und viel- fältiger werden die Wege, auf denen sich die Geschichten untereinander vernetzen, überla- gern, befruchten und uns unerwartete Entdeckungen ermöglichen.

Ein Archiv ist niemals fertig. Den Anfang für memorystations.online macht all das Material, das in den Memory Stations vor Ort generiert, aufbereitet und hochgeladen wird und durch das jede*r Einzelne, die oder der daran teilnimmt, selbst Teil einer umfassenden „Geschichte“ wird.


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